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Revolution von unten: Fußball zwischen Kult und Kommerz

+++ Wie Vereine und Fans der Kommerzialisierung des Fußballs entgegentreten +++

Der Wahnsinn hat ein Ende! Das Transfer-Fenster dieses Sommers ist nun seit zwei Wochen geschlossen. Deutsche und europäische Fußball-Klubs investierten für neue Spieler noch nie da gewesene Summen. Allein die 18 Bundesliga-Vereine gaben für 200 Profis rund 600 Millionen Euro aus (Vorjahr 547 Mio. Euro). Der Transfer des Brasilianers Neymar vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain sprengte mit 222 Millionen Euro alle Rekorde. Und öffnete die Tür für noch höhere Ablöse-Zahlungen. Financial Fair Play? Fehlanzeige!

Die irrwitzigen Transfer-Summen, die Korruption bei FIFA und UEFA und der steigende Einfluss mächtiger Investoren – der Fußball verliert immer stärker an Glaubwürdigkeit. Längst wenden sich Fans vom kommerziellen Fußball ab. In Deutschland protestieren Ultras gegen steigende Eintritts-Preise, gestreckte Spieltage und Halbzeit-Shows. Manche meiden aus Protest ihren Lieblings-Klub, feuern stattdessen die Amateure vor der eigenen Haustür an. Gibt es das noch, das „echte“ Fußball-Erlebnis mit Bier und Bratwurst für ein paar Euro Eintritt? SPORTSUPREME begab sich auf Spurensuche in Hamburg, Leipzig und München.

Altona 93: Punks und Bier auf dem „Zeckenhügel“

Es war die Fairplay-Geste des Sommers. Als der Hamburger Regionalligist Altona 93 zum Testspiel den englischen Premier-League-Klub West Ham United empfing, schickte Trainer Berkan Algan zur zweiten Halbzeit einen Mann weniger aufs Feld. Grund war eine Gelb-Rote Karte, die West Hams Kapitän Winston Reid kurz vor der Pause erhalten hatte. Mit der freiwilligen Herunternahme seines Spielers wollte Altonas Coach Chancengleichheit herstellen. Leider spielte Schiedsrichter Fabian Porsch bei der ungewöhnlichen Aktion nicht mit. „Er meinte, dass so ein Verhalten respektlos ihm gegenüber sei und das habe ich dann auch sofort eingesehen“, sagte Algan dem Hamburger Abendblatt.

Obwohl der AFC die Partie mit elf Mann weiterspielen musste, war der krasse Außenseiter am Ende mehr als der moralische Sieger. Die Hamburger trotzten dem Londoner Top-Klub (Marktwert 218 Millionen Euro) mit Stars wie dem Ex-Bremer Marko Arnautovic oder dem ehemaligen Leverkusener Chicharito ein 3:3-Unentschieden ab. „Wir hatten einfach nur Spaß. In der Regionalliga ist das ein anderer Schnack“, sagte Algan dem NDR.

„Nichts ist unmöglich“, lautet das Motto des Hamburger Vereins, der nach acht Jahren in die Regionalliga zurückkehrte. Damit stieg Altona 93 nach dem HSV und FC St. Pauli wieder zur Nummer 3 der Hansestadt auf. Und beginnt, an alte Zeiten anzuknüpfen. Früher strömten bis zu 20 000 Zuschauer in die Adolf-Jäger-Kampfbahn. Von 1984 bis 1993 war der Altonaer Fußball-Club von 1893 schon einmal drittklassig, verfehlte unter Trainer Willi Reimann nur knapp die Aufstiegsrunde zur 2. Liga. Auch die Duelle gegen den SC Victoria – immerhin das älteste Stadtderby Deutschlands – zählten zu den Höhepunkten. Das letzte große Spiel erlebten die Altonaer 1994, als Borussia Dortmund im DFB-Pokal in der Griegstraße gastierte. Danach lief der FC St. Pauli dem AFC über Jahre den Rang ab.

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Der Wind hat sich gedreht. Mittlerweile kehren viele Pauli-Anhänger dem Kiez-Klub den Rücken zu. Zu viel Kommerz, zu viel Lifestyle, lautet der Vorwurf einiger Punks und Alt-Linker, die lieber beim AFC ihr Bierchen trinken. Hier, wo es noch einen „Zeckenhügel“ und eine „Meckerecke“ gibt, ging es doch lange Zeit viel gemütlicher zu, als in der mittlerweile modernen Arena am Millerntor. „Wir sind St. Pauli im Kleinen. Wir haben ein ähnliches Zuschauer-Klientel. Unsere Fans lassen uns nicht im Stich. Sie sind sehr wertvoll, die hegen und pflegen wir“, so AFC-Manager Andreas Klobedanz zum NDR. Ob diese Philosophie noch gilt, wenn Altona 93 – so der Plan – in spätestens fünf Jahren in die 3. Liga aufsteigt?

Lok und Chemie: Gegenpole zu RB Leipzig

Auch in Leipzig besinnen sich Fußball-Fans ihrer Wurzeln. Mit Lok und Chemie kehrten die Traditions-Klubs der Stadt nach Jahren der Tristesse in die 4. Liga zurück. Zum ersten Stadtderby in der Regionalliga seit 20 Jahren strömten zuletzt 5000 Anhänger in den altehrwürdigen Alfred-Kunze-Sportpark. Auch wenn das Duell der Erzrivalen (Lok gewann gegen Aufsteiger Chemie mit 1:0) nicht ohne Fan-Krawalle auskam, war es ein Signal an die verhasste Nummer 1 der Stadt – RB Leipzig.

Die Millionen-Truppe von Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz wurde letzte Saison auf Anhieb Bundesliga-Zweiter, spielt dieses Jahr erstmals in der Champions League. Die Euphorie ist groß, die WM-Arena von 2006 ist meist ausverkauft. Leipzig und die Region, so scheint es, lechzen nach Spitzen-Fußball. Auch wenn er kommerziell motiviert ist.

Lok und Chemie bilden den Gegen-Entwurf zum Retorten-Klub. In den Teams spielen Feierabend-Kicker statt Fußball-Millionäre, für die Stimmung sorgen Ultras statt Event-Publikum. Und in den Stadien gibt’s Bratwurst statt Büfett. „Wir sind in unserem Kosmos unterwegs, gehen unseren Weg und beschäftigen uns wenig mit RB“, sagte Lok-Präsident Thomas Löwe der Zeit.

Die „Loksche“, zu DDR-Zeiten viermaliger Pokalsieger sowie Finalist im Europapokal der Pokalsieger, scheint aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Nach der Wende spielte der Verein als VfB Leipzig kurzzeitig in der Bundesliga, stürzte aber Ende der Neunziger ab. Zudem sorgte Loks teils rechte Fan-Klientel immer wieder für Negativ-Schlagzeilen. Der Insolvenz des VfB folgte 2003 die Neugründung von Lok Leipzig. Seitdem ging es sportlich wieder bergauf. In dieser Saison strebt der Verein aus Probstheida (hat Etat von 1,5 Millionen Euro) einen einstelligen Tabellenplatz an. Bis 2020 soll der Aufstieg in die 3. Liga und die Rückkehr in den Profi-Fußball gelingen.

Ganz so weit denkt man beim Stadtrivalen Chemie noch nicht. Nach Insolvenz, Umbenennung und Neugründung 2008 arbeitete sich der linksorientierte Fan-Verein von der Kreisklasse in die Regionalliga hoch. Hier backen die Leutzscher, immerhin zweifacher DDR-Meister, erst mal kleinere Brötchen. „Wir wollen jedes Spiel mit Herz, mit Leidenschaft, mit Freude angehen. Wir wollen nichts mit dem Abstieg zu tun haben“, sagte Chemie-Trainer Dietmar Demuth dem MDR und fügte mit Blick auf die Stadtrivalen an: „Wir, Lok oder der neue Verein, jeder hat seine eigene Klientel. Auch wir haben unseren Charme. Dieses enge Stadion, wo alle gern Fußball spielen. Das erinnert mich an St. Pauli.“

1860 München: Euphorie statt Lethargie

Ein kleines Stadion, familiäre Atmosphäre und Tradition pur: Bei 1860 München wird seit dieser Saison wieder echte Fußball-Kultur zelebriert. Nach dem Abstieg aus der 2. Bundesliga, Beinahe-Insolvenz und Neustart in der 4. Liga erleben die Löwen gerade eine Wiedergeburt. Der Trainer wurde entlassen, der Präsident trat zurück. 29 Spieler gingen, 29 neue kamen. Das Wichtigste: Die Löwen zogen aus der ungeliebten Allianz Arena der Bayern und kehrten in ihr Stadion an der Grünwalder Straße zurück. In Giesing, der Heimat der Sechzger, sind die Bierstuben voll. Die Zahl der Mitglieder steigt. Zu den ausverkauften Heimspielen sieht man Anhänger, die jahrelang nicht mehr da waren. Es herrscht Aufbruchsstimmung.

Choreo an der Grünwalder Straße

Wohl auch, weil es bei den Löwen sportlich wieder rund läuft. Unter Trainer und Ex-Profi Daniel Bierofka führt 1860 die Regionalliga Bayern souverän an. Mit Talenten aus der Region und Ex-Bundesliga-Spielern wie Sascha Mölders und Timo Gebhart scheint die Rückkehr in den Profi-Fußball machbar. „Unser Ziel ist, vorne mitzuspielen und die Meisterschaft zu erreichen. Wir wollen den Aufstieg in die 3. Liga schaffen“, sagte Löwen-Geschäftsführer Markus Fauser vor dem Saisonstart.

In der Euphorie geht fast unter, dass Investor Hasan Ismaik im Hintergrund noch die Fäden in der Hand hält. Der Jordanier stieg 2011 bei den Münchenern ein, hält 60 Prozent an der ausgegliederten Profiabteilung. Erst rettete er den Arbeiterklub vor der Pleite, dann trieb er Pläne zum Bundesliga-Aufstieg voran. Selbst von der Champions League war mal die Rede. Träumerei. Jahrelang dümpelte 1860 im Mittelmaß der 2. Liga, tauschte mehrfach Trainer, Manager und Vorstände aus. Die Quittung für das Missmanagement: Letzte Saison stieg 1860 trotz drittgrößtem Profi-Etat ab. Für die 3. Liga gab es keine Lizenz, der freie Fall in die 4. Liga war nicht mehr zu stoppen. Ein Parade-Beispiel dafür, „wie labil das Konstrukt Profifußball mit komplett ausgegliederten Kapitalgesellschaften sein kann“, schrieb Marco Bertram treffend bei turus.net.

Bei der Mitgliederversammlung im Juli stimmte die Mehrheit dafür, die Zusammenarbeit mit dem Investor bald zu beenden. Ismaik teilte mit, dass seine Anteile unverkäuflich seien. Er will sogar gegen die 50+1-Regel klagen. Neue Geldgeber wollen erst einsteigen, wenn der alte Investor weg ist. Sie müssten zudem einen großen Schuldenberg stemmen. Schwierig, in der Lage für die Zukunft zu planen. Ob die Sechszger jemals wieder einem Großinvestor das Feld überlassen würden.

„Wenn das Baby läuft, muss man aufpassen“

Bei Altona 93 herrscht norddeutsche Gelassenheit. Der Hamburger Kult-Verein genießt derzeit die bundesweite Aufmerksamkeit. Zum zweiten Top-Testspiel dieses Sommers war Premier-League-Aufsteiger Huddersfield Town zu Gast. Noch so ein Verein, der es aus den Niederungen des Amateur-Fußballs nach ganz oben schaffte. Nicht so einfach, da den Spagat zwischen Kommerz und Kult hinzukriegen. So sieht es wohl auch Altonas Trainer Algan: „Im Moment sind wir in aller Munde. Und allein das ist viel Arbeit gewesen. Ich freue mich unwahrscheinlich, diesen Verein geweckt zu haben. Der ist jetzt wach. So, und jetzt müssen wir gucken, wie die ersten Schritte funktionieren. Wenn das Baby erst einmal läuft, muss man aufpassen.“